Populismus und Religion
10 an- und aufregende Nachdenklichkeiten
Paul M. Zulehner
EINS: Eine Bestimmung des Verhältnisses von Populismus und Religion ist schier unmöglich. Beide Begriffe sind (zu) schillernd. Die folgenden Überlegungen sind nicht mehr als Annäherungen.
Populismus
ZWEI: Populismus leitet sich von populus (Volk, griechisch „demos“) ab. Dieser Begriff signalisiert, dass es mehr gibt als nur Individuen und deren lose Ansammlung. Volk bedeutet Einheit der Vielen. Einheit und Vielfalt versöhnen sich in kreativer Weise – die Vielfalt ist der Reichtum des Volkes. Gemeint ist zunächst die Vielfalt von Individuen. Folgenreich wird diskutiert, welche Eigenschaften diese Individuen eint: die Sprache, die Staatsbürgerschaft, eine Gesellschaftsbürgerschaft?
Volk verlangt nach einem Gemeinwohl für alle, inklusive der Schwachen. Volk ist daher nicht nur mit Gleichheit, sondern mit Solidarität verbunden. Politiker sind im wünschenswerten Normalfall bestellt, für dieses Gemeinwohl zu sorgen. Sie haben dazu auf das Volk zu hören, was Politiker populär [1] macht.
DREI: Dieser an sich positive Begriff kippt ins Negative, sobald die Politik nicht dem Volk dient, sondern sich des Volkes bedient. Die Politik benützt dann das Volk, prekäre Verhältisse und daran angebundene Ängste, für die Mehrung der eigenen Macht und für korrupte Bereicherung. Dominieren etwa in Zeiten, in denen viele Schutzsuchende ins Land kommen (möchten), soziale wie kulturelle Ängste, werden diese durch eine „Politik mit der Angst“ (Ruth Wodak) zur eigenen Machterlangung und -sicherung bewirtschaftet, sogar gezielt geschürt. Soziale Medien leisten dabei einen Bärendienst. Angstpolitiker offerieren vereinfachte Lösungen für komplexe Probleme. Dieser negative Popolismus kann sich nationalistisch kleiden und radikalisieren. Populismus, Radikalismus, Nationalismus mischen sich in toxischer Weise. Als Ziel wird das Schaffen einer ethnisch und kulturell einheitlichen Nation ausgerufen. Erstrebenswerte bereichernde Vielfalt wird verworfen, ein verwerflicher bedrohlicher Pluralismus, und wie ätzend vermerkt wird, ein destruktiver Multikulturalismus wird zum bedrohlichen Schreckgespenst.
Insofern das Konzept einer bereichernden Vielfalt eng mit der liberalen Demokratie verbunden ist, gerät mit der politischen Abwehr der Vielfalt und dem Streben nach ethnisch-kultureller Uniformität auch die liberale Demokratie in Gefahr. Ein erster Schritt ist die Wandlung der liberalen in eine illiberale Demokratie. Solche Entwicklungen dienen zunächst dem Macherhalt, schließlich führen sie aber zur Zerstörung demokratischer Verhältnisse. Demokratien werden mit demokratischen Mitteln zerstört (Alain de Benoist).
VIER: Eine politologisch gewichtige Frage ist, warum just in den hart errungenen freiheitlichen Demokratien so viele Bürger:innen populistische, nationalradikale Parteien wählen. Dies scheint mit der bei zunehmend vielen Menschen ansteigenden Unterwerfungsbereitschaft zusammenzuhängen. Diese Unterwerfungsbereitschaft ist dem Autoritarismus im Sinn von Th. W. Adorno ähnlich. Offensichtlich steigt inmitten freiheitlicher Gesellschaft die Anzahl vor allem junger Menschen, welche die lästig werdende Last der Freiheit wieder loswerden wollen. Sie unterwerfen und sich dazu bereitwillig neuen Führer:innen. Ohne diese fehlt dem Populismus seine gesellschaftliche Grundlage. Diese wachsende Freiheitsflucht hängt mit neuer Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas), den riskant gewordenen Freiheiten (Ulrich Beck) sowie abnehmender Ichschwäche zusammen. Der Ausfall der familialen Welten verhindert angemessene ichstärkende Bildung. Die Pluralitätstoleranz (Günter Hole) bleibt unterentwickelt.
Religion
FÜNF: In solchen turbulenten Kontexten spielt Religion trotz Säkularisierung von Staat und Politik eine gewichtige Rolle. Religion erweist sich dabei grundsätzlich zwiespältig. Zentrale Anteile jeder Religion können einerseits negativen Populismus begünstigen. Andererseits können andere Anteile von Religion freiheitliche Demokratien schützen und stärken.
SECHS: In allen traditionellen Weltreligionen steckt ein Anspruch auf Überlegenheit. Im Modus des Anspruchs hält sich jede Religion im Besitz „der“ Wahrheit und meint, den anderen Religionen als Heilsweg überlegen zu sein (Murat Kaymann). In der katholischen Tradition hat sich dieser Überlegenheitsanspruch über Jahrhunderte hinweg in der Formel „extra ecclesiam nulla salus“ („außerhalb der Kirche kein Heil“) verdichtet. Dies führte zu einem Heilsexklusivismus. Der Großteil der Menschheit galt als „verdammte Masse“ (massa damnata: Augustinus). Daraus wurde eine aggressive Missionspraxis abgeleitet, notfalls auch mit Scheiterhaufen, Kreuzzügen und Gewalt.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen heilspessimistischen Exklusivismus überwunden und sich im Modus der Hoffnung zu einem heilsoptimischen Inklusivismus für alle Menschen hinentwickelt. Dennoch findet sich der traditionelle Überlegenheitsanspruch in evangelikalen Gemeinschaften oder anderen sektoid geschlossenen Gruppen christlicher Kirchen. Dieser soteriologische Überlegenheitsexklusivismus der Religion, der andere vom Heil ausschließt, verbindet sich umstandslos mit populistischen Exklusivitätsphantasien und verstärkt diese. Religiöse Fundamentalisten und politische Populisten sind wie „(schein)heilige Zwillinge“. Das gilt für die Führenden ebenso wie für die (unterwerfungsbereiten) Geführten. Trotz des hohen Pegels an Unmoralität in Ehefragen wählen erstaunlicherweise US-amerikanische Fundamentalisten, denen gerade Familie und eheliche Treue Topwerte sind, den Demokratieverächter und Populisten Donald Trump.
SIEBEN: Religions- und Wisssensoziologisch ist zu bedenken, dass Religionen bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Peter L. Berger/Thomas Luckmann) eine gewichtige Rolle spielen. Neben der Sprache tragen sie zur Legitimation der konstruierten gesellschaftlichen Verhältnisse bei.
Der Mantel der Religion immunisiert gegen kritisches Fragen und Rebellion. Es ist vor allem vielförmige Gewalt, zu deren Legitimation Gott missbraucht wird: Militärische, politische, KI-generierte Gewalt spielen aber im populistischen Handeln eine zentrale Rolle. Tragischer Weise geben sich Religionsführer aus eigenen Interessen willig für solchen politischen Missbrauch der Religion her. Statt dass beispielsweise der Patriarch Kyrill I. von der Russisch-Orthodoxen Kirche nach einem Gottesdienst, in dem er die Bergpredigt gehört hat, das Mitglied seiner Kirche Wladimir Putin anruft und ihm zuruft: „Selig die Friedensstifter! Selig die keine Gewalt anwenden!“, spricht er vom „heiligen Krieg“ und segnet den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Ähnlicher Missbrauch der Religion findet sich in Teilen des Islam, aber auch - wie etwa im blutigen Dreißigjährigen Krieg - im Christentum. Auf diese Weise gerät Gott nicht in Kredit, sondern in Misskredit.
Himmelsgeschenke
ACHT: Prophetische Religionen könnten in der taumelnden Welt gute Dienste leisten. Ein Beispiel ist die Zusammenarbeit von Papst Franziskus mit dem Großimam von Abu Dabi Achmet Al-Tayyeb.[1] Die Religionen könnten ihr gleichsam Himmelsgeschenke machen. Dazu zählen: eine tiefe Einheit allen Seins („chain of beeing“); die Achtung und Schutz des Oikos, der Mitwelt; gleiche und unantastbare Würde jedes Menschen von der Wiege bis zum Grab; zumindest perspektiv universelle Solidarität. Himmelsgeschenke sind daher Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Zum erhofften Beitrag der Religionen zählt in den Kulturen wachsender Angst, diese zu verstehen und durch einen gediegenen Vorrat an Hoffnung die Menschen zu ermächtigen, in den Ängsten zu bestehen (Monika Renz). Kirchen und Religionen könnten im religionsverbindenden Miteinander zeigen, dass sie trotz aller Verschiedenheit in Einheit und Einmütigkeit leben und sich für die Welt einsetzen können. Ihre Vielfalt an Wahrheiten muss nicht in bedrohlicher Weise zu exklusiven Überlegenheitsstrategien führen. Diese Vielfalt - die es auch innerhalb des Christentums gibt - ist eine veritable, wenngleich herausfordernde Bereicherung. Sie könnten auf das Gemeinsame hinweisen und in den kontroversen Fragen einen gewaltarmen Dialog auf Augenhöhe führen. Auf diese Weise entstünden Inseln der Freiheit in Gesellschaften, in denen Freiheit populistisch bedroht ist.
NEUN: Die Umkehr der Kirchen zu ihren eigenen Quellen, damit zu einem göttlichen Geheimnis, das alle unsere geoffenbarten Wahrheiten in seiner unendlichen Liebe zu allen übersteigt und keinen Heilsexklusivismus kennt, ist unabdingbare Voraussetzung zum erhofften Dienst der Kirche an einer bedrohten Welt. Dadurch kann verhindert werden, dass Religionen in fundamentalistischer Weise Populismus legitimieren.
ZEHN: Im Prozess der Entscheidungsfindung ist es besonders wichtig zu prüfen, welche Parteien - am ehesten - glaubwürdig sind in ihrem Ziel, der Bevölkerung zu dienen, und welches sich des Volkes bedienen wollen, um an die Macht zu kommen. Und speziell gläubige Menschen mögen berücksichtigen, welche Parteien in Zeiten multipler Krisen und wachsender Angst die Grundwerte aller wichtigen Religionen vertreten wie Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung - und zwar nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in ihrer politischen Praxis.
Weiterführende Quellen:
[1] Papst Franziskus: Fratelli tutti (Rom 2021), 37, 155-163.
[2] Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt, Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate (4. Februar 2019): L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 49 (2019), Nr. 7 (15. Februar 2019).
Viele dieser Gedanken finden sich in einem von Annette Schavan (Bundesrepublik Deutschland), Tomáš Halík (Tschechien) und Paul M. Zulehner (Österreich) 2022 veröffentlichten internationalen Aufruf wieder, der in zehn Sprachen auf https://info.zulehner.org/site/projekte/religionenhoffnungfuerein zu finden ist. Er hat breite interreligiöse und weltgesellschaftliche Resonanz gefunden.